Schrecklich schön und weit und wild by Matthias Politycki

Schrecklich schön und weit und wild by Matthias Politycki

Autor:Matthias Politycki [Politycki, Matthias]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455851816
Herausgeber: Hoffmann und Campe
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Wir sind im Krieg

1993, mitten in Kenia, schlug ich dem Fahrer nach einem Studium der Straßenkarte vor, eine kürzere Route zu nehmen. Unmöglich, winkte der Fahrer ab, in diesem Gebiet sei Krieg. Ausgerechnet in Kenia, einem der beliebtesten Urlaubsländer Afrikas? Davon war in Deutschland nirgendwo die Rede gewesen. Der Fahrer sah mir an, daß ich ihm nicht glaubte: Nicht nur in Kenia, in jedem Land Afrikas herrsche immer irgendwo Krieg. Meist beginne er mit Viehdiebstahl, ziehe Racheaktionen nach sich, eskaliere. Auch wenn die Kämpfe in der Regel schnell wieder beendet würden, so flackerten sie schon mit dem nächsten Viehdiebstahl an anderer Stelle, unter anderen Stämmen wieder auf.

Die Sätze des Fahrers vergaß ich nicht. Wenn ich Nachrichten hörte, dachte ich mir all die Mikrokriege dazu, von denen nie berichtet wurde. Einmal in dieser Richtung sensibilisiert, erfuhr ich auch bei weiteren Reisen, daß in diesem oder jenem Landesteil gekämpft wurde. In Tadschikistan mußten wir 2009 einen weiten Umweg in Kauf nehmen, weil die Gegend um Tavildara, die man auf der direkten Verbindung zum Ostteil des Landes durchfährt, gerade von islamischen Aufständischen beherrscht wurde. Sogar in Thailand, einem »absolut sicheren« Touristenparadies, gab es Gebiete, in denen die Minderheiten der Shan und der Karen für ihre Unabhängigkeit kämpften. Von Indien ganz zu schweigen, nämlich nicht nur von Kaschmir, sondern von all den anderen Regionen, in denen sich Aufständische, seitens der Regierung als Maoisten bezeichnet, bis heute Schießereien mit der Obrigkeit liefern.78 Man hätte den Begriff Krieg nur neu fassen müssen, jenseits aufmarschierender Truppenverbände und offener Feldschlachten, dann wäre schon vor Jahrzehnten jedem Reisenden klar gewesen, daß er meist nicht durch eine schöne heile Welt fuhr.

Mit Anbruch der neuen Weltunordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde es offensichtlich. Mehr und mehr Reisedestinationen verwandelten sich in Kriegsschauplätze; Touristenhotels, Kreuzfahrtschiffe, Badestrände und selbst Reisegruppen, die gerade eine Sehenswürdigkeit besichtigen wollten, wurden Ziel des Terrors, Stätten des Weltkulturerbes bewußt vernichtet. Obwohl in den Bekennerschreiben stets von »Kriegseinsätzen« gesprochen wurde und von »Soldaten«, die sie ausgeführt hätten, dauerte es bis zum Jahr 2016, ehe sich die Bundesrepublik dazu durchringen konnte, die Kriegserklärung der Islamisten auch expressis verbis anzunehmen: »Wir sind im Krieg«, verkündete Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Pressekonferenz am 28.7.2016.79 Papst Franziskus verwendete dieselbe Formulierung wenige Wochen später und präzisierte: »Es ist ein dritter Weltkrieg.«80

Von der großen, weiten Welt und ihrem verheißungsvollen Duft ist seit 1989 immer weniger übriggeblieben. Im Rückblick auf frühere Reisen wird mir schmerzlich bewußt, daß ich eine Welt besichtigt habe, die längst Vergangenheit ist. Daß das meiste, was ich vermeinte erkannt und begriffen zu haben, mittlerweile Makulatur ist – und nurmehr von historischem Interesse. Das trifft natürlich auf alle Länder zu, die ich bereist habe. Dort jedoch, wo der Krieg den Wandel der Geschichte gewaltsam beschleunigt hat, wird es überdeutlich sichtbar.

Reisen als Ausdruck der interkulturellen Neugier ist eine Sache des Friedens, genau genommen auch ein Beitrag zum Frieden, indem es eine Verständigung zumindest im begrenzten Rahmen touristischer Interaktion in Gang setzt. Wider Willen spannend wird es jedoch, wenn man in der Fremde plötzlich etwas



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